Vor bald 20 Jahren gründete Martin Wiesner in Kreuth eine kleine Hutmacherei – mittlerweile kommen Kunden zwischen Niederbayern und Südtirol an den Tegernsee, um eines seiner maßgefertigten Einzelstücke zu erstehen
Binnen Sekunden färbt sich die Haut an Martin Wiesners Händen rot: Während der Hutmacher einen Rohling aus Filz in eine Wanne mit kochend heißem Wasser taucht, verzieht er das Gesicht. „Ich bin das nicht mehr so gewohnt“, sagt er und lacht. „Früher habe ich das ständig gemacht.“ Er wischt sich den Schweiß von der Stirn, auch die Luft unter den Neonröhren in der offenen Werkstatt ist warm. Der Wasserkocher zischt, im Hintergrund dudelt das Radio.
Seit 19 Jahren führt Wiesner sein Geschäft, das heute „Hutmacherei und Trachten Wiesner” heißt und seit 2015 in Rottach-Egern am Tegernsee im Voitlhof 1532 untergebracht ist, einem ehemaligen Tiroler Bauernhof, den eine Gastronomenfamilie abtrug und vor Ort wieder aufbaute. Mit 20 gründete Wiesner sein Hutmacherei, gleich nach der Ausbildung und neben der Wehrpflicht – an zwei Nachmittagen pro Woche nahm er erste Aufträge an und produzierte sie in einem kleinen Raum gegenüber seines Elternhauses. Mittlerweile ist Wiesner 39 Jahre alt und sein Geschäft so beliebt und bekannt, dass die Kundinnen und Kunden sich samstags auf zwei Etagen drängen. Die Marke ist inzwischen – man kann es nicht anders sagen – richtig angesagt.
„Vor anderen tut er gern so, als würde er alles selbst machen“, kommentiert eine Mitarbeiterin mit kastanienbraunen Locken Wiesners Arbeit mit dem Filzhut und grinst – Wiesners Schwester Veronika, von Anfang an im Team, zu dem heute auch Ehefrau Susanne und 20 Mitarbeitende gehören. „Ich bin kein strenger Chef und werde es auch nie sein“, gibt Wiesner achselzuckend zurück. Vom Maßnehmen beim Kunden bis zum Annähen der Borte – jeden Arbeitsschritt der handgefertigten Hutmodelle kann er längst nicht mehr selbst ausführen, dafür ist die Warteliste zu lang. Bis zu eineinhalb Jahre dauerte es zuletzt, einen von Wiesners beliebten Velourshüten angefertigt zu bekommen.
Inzwischen berät er Damen wie Herren im Verkauf, sitzt zwei Tage pro Woche im Büro, telefoniert mit Schnittmachern und prüft den Einkauf, etwa für das Material der Rohlinge für die Strohhüte. Die Rohlinge näht ein kleiner Betrieb im Allgäu von Hand auf Wiesners Formen, ähnlich läuft die Produktion der Filzhüte ab. Worauf Wiesner und seine Kundschaft gleichermaßen Wert legen: Er kümmert sich um den Feinschliff und passt jedes Modell nach der Fertigstellung persönlich an.
Wie beim Doktor gehe es zu, erzählt er, vor seinem Arbeitsplatz steht dann eine Tafel mit Namen der Kundinnen und Kunden – „und jeder geht erst raus, wenn er oder sie zufrieden ist“. Wiesner fügt hinzu: „Ich schaue zum Schluss immer drüber, sonst bräuchte ich mein Handwerk gar nicht mehr zu machen.“ Denn seine Kundschaft kommt aus dem gesamten Alpenraum und darüber hinaus: aus Regensburg, dem Allgäu, aus dem Salzburger Land oder von jenseits des Brenners, aus Südtirol. Die Menschen erwarten einen perfekt auf sie zugeschnittenen Hut, kein Modell von der Stange.
Bekannt geworden ist die Hutmacherei mit dem Velourshut, in der Trachtenszene ursprünglich ein Modell für Fest- und Feiertage, bei Wiesner inzwischen in 30 Farben erhältlich. „Bei allen Varianten der Kopfbedeckung – ob aus Velours, Filz oder Stroh – gilt meine Maxime ‚Nichts verkaufen, was mir nicht gefällt‘“, sagt Martin Wiesner, während er den Filzrohling aus der Wanne nimmt und vorsichtig in einen Kochtopf setzt, von einem Format wie man es in Großküchen findet. Hier wird der Stoff im Wasserdampf gekocht, danach sorgt ein Gerät mit dem sprechenden Namen „Ranstreckmaschine“ dafür, dass der obere Teil des Hutes nicht zu lang wird und die Krempe breit genug – einer von vielen Arbeitsschritten, die für die ausgezeichnete Passform der Hüte aus Wiesners Werkstatt sorgen. Zum Schluss zieht Wiesner den feuchten Stoff auf eine Art runden Holzkopf auf seiner Arbeitsplatte.
Im Regal wird der Rohling trocknen, dort warten bereits fünf bis sechs Auftragswerke auf ihre Weiterverarbeitung am nächsten Tag. Dann wird eine Kollegin von Wiesner die Hüte an der Maschine scheren: Diesen Arbeitsschritt leistet sich heute weit und breit kein Betrieb mehr, aber nur so kommt die pelzige, samtweich glänzende Oberfläche der Wiesner-Hüte zustande. „Mit dieser Qualität heben wir uns von der Masse ab“, sagt Wiesner.
Sobald er die gewünschte Form eingedrückt hat – beim sogenannten Werdenfelser Sechser etwa erkennt man bei genauem Hinsehen die Ziffer „6“ im Velours – nähen vier Mitarbeiterinnen im Nebenraum Innenbänder und Garnitur. „Das Schöne an meinem Beruf ist, dass man Hüte nicht wegwirft“, antwortet Wiesner auf die Frage, wie viele Exemplare der Kopfbedeckung er selbst habe. Das seien nur zwei oder drei für den Alltag und ein Modell aus Velours für Feste. Er erzählt von einem Bekannten, einem Schreiner, der nach 15 Jahren erst sein Treppengeländer für zu Hause machte: Das Handwerk ist eine Arbeit für andere.
Dabei muss Wiesner das Auftragsvolumen inzwischen steuern: Als zuletzt die Preise des Rohmaterials aus Portugal sowie die Energiekosten weltweit explosionsartig stiegen, mussten Wiesner und sein Team Kundinnen und Kunden anrufen und sie um Verständnis dafür bitten, dass ihre Bestellung teurer geworden sei als gedacht. Der Plan für die Zukunft: Aufträge nur noch quartalsweise annehmen, damit sich auch künftig jeder sein Exemplar leisten kann. „Ich will unsere Kundschaft nicht über den Preis aussortieren“, sagt Wiesner. „Wir sind selbst einfache Leute.“ Zum Prestigeobjekt unter Kennern sind seine Hüte freilich geworden, wie ein Kunde der Hutmacherei berichtet. Demnach kommt es vor, dass zwei Fahrradfahrer in der Großstadt ihre Kopfbedeckungen mustern und anerkennend feststellen: „Auch ein Wiesner!“ Als Markenzeichen dient der Hutmacherei ein kleines silbernes Geweih.
Martin Wiesner vergleicht seine Arbeit gern mit dem Friseurhandwerk. Wenn eine Hutform nicht zum Gesicht oder der Kopfform eines Kunden passe, sagt er das deutlich. Beim Anpassen schneidet er den Rand auch mal eben um drei Millimeter kürzer – obwohl der Mann ausdrücklich eine breite Krempe gewünscht hatte. Ob jemandem ein Pony steht, sieht auch eine Friseurmeisterin oft, bevor ihre Kundin es merkt.
Überhaupt nimmt Martin Wiesner sein Handwerk ernst, versteht sich als Behüter einer alten Kunst. „Federn, Nadeln oder Wappen – was man sich an den Hut steckt, ist Geschmackssache.“ Eines aber würde Wiesner niemals tun: Einen Vereinshut an jemanden verkaufen, der kein Mitglied ist. „Stell dir vor“, sagt Wiesner, „ein junger Mann ginge mit einem Tegernseer Schützenhut zum Waldfest und trüge dazu Lederhosen und Sneakers statt der passenden Tracht!“ Ein unverzeihlicher Stilbruch, der die Tradition der Lächerlichkeit preisgäbe.
Auch die Trachtenmode, die im Laden verkauft wird, ist eine Herzensangelegenheit des Ehepaars Wiesner. Es wäre sicherlich wirtschaftlicher, die Mode produzieren zu lassen, aber das möchte Susanne Wiesner nicht. Mit ihrer Schwester Isabella betreibt sie das Label BellaSusi, die Entwürfe entstehen in der hauseigenen Schneiderei. „Wir finden: Es kann nicht sein, dass das bei uns am Tegernsee irgendwann keiner mehr kann“, sagt Martin Wiesner. Überhaupt, so scheint es, nimmt er Stilfragen ernst. Er sei zwar keiner, der täglich Hüte trage. Bei einer Sache aber macht er keine Kompromisse: „Mützen stehen mir einfach nicht.”
Jedes Stück ein Unikat
Vom Maßnehmen bis zum Einnähen des Hutbands, ein Modell aus der Hutmacherei Wiesner ist reine Handarbeit. Beim Prinzip offene Werkstatt können Kundinnen und Kunden den Mitarbeiterinnen über die Schulter schauen.
Druck im Kessel
Die Arbeitsschritte vom Rohling bis zum maßgefertigten Hut sind vielschichtig: Stoff, Dampf, Holz und Nähmaschinen gehören dazu – und ganz viel Augenmaß. Die Ladenfläche geht nahtlos in die Werkstatt über.